Bundesverfassungsgericht
Translator
BVerfG, 23.10.1951 - 2 BvG 1/51
Daten Fall: Südweststaat Fundstellen: BVerfGE 1, 14; BB 1952, 16; NJW 1951, 877 Gericht: Bundesverfassungsgericht Datum: 23.10.1951 Aktenzeichen: 2 BvG 1/51 Entscheidungstyp: Urteil Leitsätze
1. Die Entscheidung des Plenums gemäß §
16 Abs. 3 BVerfGG begründet die Zuständigkeit des Senats endgültig; der Senat
kann die Sache nicht mehr an den anderen Senat verweisen; das Plenum kann seinen
Beschluß nicht mehr ändern.
2. Mitglieder einer Regierung sind “Beamte" im
Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG.
3. Das Bundesverfassungsgericht hat nur
die Rechtmäßigkeit einer Norm, nicht auch ihre Zweckmäßigkeit nachzuprüfen. Die
Frage, ob das Grundgesetz dem Gesetzgeber Ermessensfreiheit einräumt, und wie
weit sie reicht, ist eine vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfende
Rechtsfrage.
4. Die einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht isoliert
betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Aus dem Gesamtinhalt der
Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze und
Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen untergeordnet
sind. Diese sind deshalb so auszulegen, daß sie mit den elementaren
Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers
vereinbar sind.
5. Ein Urteil, das ein Gesetz für nichtig erklärt, hat nicht
nur Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG), sondern es bindet auch gemäß § 31 Abs.
1 BVerfGG mit den tragenden Entscheidungsgründen alle Verfassungsorgane des
Bundes derart, daß ein Bundesgesetz desselben Inhalts nicht noch einmal erlassen
werden kann.
6. Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß ein nach dem
Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassenes Gesetz wegen Widerspruchs mit dem
Grundgesetz nichtig ist, so ist dieses Gesetz von Anfang an
rechtsunwirksam.
7. Das Bundesverfassungsgericht muß, wenn eine
Rechtsvorschrift mit dem Grundgesetz nicht unvereinbar ist, ihre Gültigkeit
positiv feststellen, soweit dies angängig ist. Das ist immer der Fall, wenn es
sich um Bundesrecht handelt.
8. Das Bundesverfassungsgericht kann in der
Urteilsformel Folgen und Pflichten aussprechen, die sich aus seiner Entscheidung
über die gestellten Anträge ergeben.
9. Das Bundesverfassungsgericht hat bei
seiner Entscheidung von den gestellten Anträgen auszugehen. Es ist aber nicht
gehindert, ihren Sinn und ihre Bedeutung, unabhängig von der Auffassung des
Antragstellers, zu ermitteln.
10. Haupt und Hilfsantrag stehen zueinander
nicht in einem echten Eventualverhältnis, wenn sie nur zwei verschiedene
Formulierungen eines und desselben Begehrens enthalten. In einem solchen Falle
braucht nur über einen Antrag entschieden zu werden.
11. Eine Volksbefragung
nach Art. 118 Satz 2 GG liegt nur vor, wenn das Ergebnis der Volksbefragung für
die Art der Neugliederung bestimmend, nicht auch, wenn es nur eine für den
Bundesgesetzgeber unverbindliche Richtschnur ist.
12. Für die Regelung nach
Art. 118 Satz 2 GG gilt der Grundsatz des Art. 29 Abs. 1 GG, nicht aber der des
Art. 29 Abs. 4 GG.
13. Aus dem Grundgesetz ergibt sich nicht, daß bei der
Volksabstimmung gemäß Art. 118 Satz 2 GG der Kreis der Abstimmungsberechtigten
allein oder zusätzlich nach dem Geburtsprinzip zu bestimmen ist.
14. Wenn die
Fassung eines Gesetzes seinen wirklichen Gehalt nicht zum Ausdruck bringt, wenn
sie mißverständlich oder irreführend ist, oder wenn das Gesetz in sich
widerspruchsvoll ist, kann es wegen Widerspruchs mit den Grundsätzen des
Rechtsstaates nichtig sein.
15. Mehrheit kann in der Demokratie nur innerhalb
des Kreises derjenigen entscheiden, die zur Antwort auf ein- und dieselbe Frage
aufgerufen sind.
16. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes bestehen nur die in
Art. 23 aufgezählten Länder. Damit ist die Annahme unvereinbar, daß daneben
Länder, die früher bestanden haben, rechtlich fortbestehen. Ein Rechtsanspruch
auf ihre Wiederherstellung ist nicht gegeben.
17. Regeln des Völkerrechts
können innerhalb des Bundesstaates nur im Verhältnis von Land zu Land und im
Bereich ihrer rechtlichen Gleichordnung angewendet werden. Neugliederungsgesetze
des Bundes berühren stets auch das Verhältnis zwischen Bund und Ländern.
18.
Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) bindet auch den Gesetzgeber. Er
verbietet, daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht dagegeben, daß wesentlich
Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird.
Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur
der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die
gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum,
wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß.
19. Ob die
Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß
hinreichend begrenzt ist (Art. 80 Abs. 1 GG) läßt sich nur von Fall zu Fall
entscheiden. Jedenfalls fehlt es an der nötigen Beschränkung, wenn die
Ermächtigung so unbestimmt ist, daß nicht mehr vorausgesehen werden kann, in
welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und
welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben
können.
20. Das Bundesverfassungsgericht kann den Wortlaut des Gesetzes nicht
ändern. Es kann aber den Vollzug des Gesetzes aussetzen. In einem solchen Fall
kann es, soweit zur Durchsetzung seines Urteils unumgänglich notwendig, nach §
35 BVerfGG die Anwendung des Gesetzes der durch die Aussetzung und das Urteil
geschaffenen Lage anpassen.
21. Eine
verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der
erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des “pouvoir
constituant". Mit dieser besonderen Stellung ist es unverträglich, daß ihr von
außen Beschränkungen auferlegt werden.
a) Sie ist nur gebunden an die jedem
geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze und - als
verfassunggebende Versammlung eines werdenden Gliedes des Bundesstaates - an die
Schranken, die die Bundesverfassung für deren Inhalt der Landesverfassungen
enthält. Im übrigen ist sie ihrem Wesen nach unabhängig. Sie kann sich nur
selbst Schranken auferlegen.
b) Ihr Auftrag ist gegenständlich beschränkt.
Sie ist nur berufen, die Verfassung des neuen Staates und die Gesetze zu
schaffen, die notwendig sind, damit der Staat durch seine Verfassungsorgane
wirksam handeln und funktionieren kann.
c) Ihre Unabhängigkeit bei der Erfüllung dieses Auftrages besteht
nicht nur hinsichtlich der Entscheidung über den Inhalt der künftigen
Verfassung, sondern auch hinsichtlich des Verfahrens, in dem die Verfassung
erarbeitet wird.
22. Der gemäß § 16 Abs. 3 BVerfGG für zuständig erklärte
Senat kann auch die besonderen Verfahrensvorschriften, die nach der gesetzlichen
Zuständigkeitsverteilung an sich nur für den Senat von Bedeutung sind, anwenden.
In einem solchen Fall kann jeder Senat Entscheidungen mit Gesetzeskraft im
ganzen Umfang des § 31 Abs. 2 BVerfGG erlassen.
23. Im Verfahren nach dem 10.
Abschnitt des III. Teils des BVerfGG (abstrakte Normenkontrolle) gibt es keinen
Antragsgegner.
24. Dem Verfahren über Mienungsverschiedenheiten zwischen dem
Bund und einem Land gemäß dem 7. Abschnitt des III. Teils des BVerfGG können
andere Länder, für deren Zuständigkeit die Entscheidung von Bedeutung ist,
beitreten.
25. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kann
durchgeführt werden, ohne daß die Antragsgegner oder die zum Beitritt
Berechtigten auftreten, Anträge stellen oder Erklärungen abgeben.
26.
Ermächtigt das Grundgesetz außerhalb der allgemeinen Verteilung der
Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 74, 73 GG) den Bund, eine Materie zu regeln,
die der Sache nach auch von einem Land geregelt werden kann, so wird der Bund im
Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung tätig. Es gelten dann die Vorschriften
des Art. 72 Abs. 2 GG.
27. Das
Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den
Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an und ist zuständig, das gesetzte
Recht daran zu messen.
28. Zu den elementaren Grundsätzen des
Grundgesetzes gehören das Prinzip der Demokratie, das bundesstaatliche Prinzip
und das rechtsstaatliche Prinzip.
29. Dem
demokratischen Prinzip ist nicht nur wesentlich, daß eine Volksvertretung
vorhanden ist, sondern auch daß den Wahlberechtigten das Wahlrecht nicht auf
einem in der Verfassung nicht vorgesehenen Wege entzogen wird.
30. Ein Land
kann auf verfassungsmäßige Rechte und Kompetenzen nicht verzichten. Der Bund
kann durch einen solchen Verzicht eine ihm im Grundgesetz nicht zugestandene
Kompetenz nicht gewinnen.
31. Die Länder sind als Glieder des Bundes Staaten
mit eigener - wenn auch gegenständlich beschränkter - nicht vom Bund
abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht.
32.
Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß ein gewählter Landtag von einem
bestimmten Zeitpunkt an rechtlich nicht mehr existiert, so braucht dies den
Rechtsbestand der Akte des Landtages, die zwischen jenem Zeitpunkt und der
Verkündung des Urteils ergangen sind, nicht zu berühren.
33. Das
Bundesverfassunsgericht hat die Gültigkeit eines ihm zur Prüfung unterbreiteten
Gesetzes unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, auch soweit diese
von den Beteiligten nicht geltend gemacht worden sind.
34. Zum Wesen einer
Abstimmung gehört es, daß der Abstimmende jede gestellte Frage bejahen oder
verneinen kann.
35. Das Grundgesetz enthält keine uneingeschränkte Garantie
für den Bestand der derzeitigen Länder und ihrer Grenzen.
36. Das
Bundesverfassunsgericht kann in einem Verfahren, sowohl nach § 13 Ziff. 6 wie
nach § 13 Ziff. 7 BVerfGG zuständig sein. Wenn der Antragsteller behauptet,
durch das angegriffene Gesetz in seinem Recht oder in den Kompetenzen seiner
Verfassungsorgane verletzt zu sein, handelt es sich bei Streit über die
Vereinbarkeit des Bundesgesetzes mit dem Grundgesetz nicht nur um eine abstrakte
Normenkontrolle, sondern auch um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Bund und
Land.
37. Solange ein Land besteht und seine verfassungsmäßige Ordnung sich
im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 GG hält, kann der Bund ohne Verletzung des im
Grundgesetz garantierten bundesstaatlichen Prinzips in seine Verfassungsordnung
nicht eingreifen.
38. Ein Abstimmungsgesetz, das willkürlich den
Abstimmungsmodus so wählt, daß ein Teil der Stimmberechtigten benachteiligt oder
der Ausgang der Abstimmung in einem bestimmten Sinne gesichert wird, ist
nichtig.
39. Die Vorschriften des Grundgesetzes (und der Landesverfassungen)
über die Verfassungsorgane und ihre Kompetenzen beziehen sich auf intakte, nicht
auf sterbende und werdene Länder. Während der Dauer eines
Neugliederungsprozesses dürfen daher auch andere als die dort vorgesehenen
Organe gebildet werden.
Hier ist das gesamte Urteil zu finden, wobei die Leitsätze die wichtigen Angaben enthalten.
https://openjur.de/u/552901.html